Eine gute Frage: Woher kommt das positive Menschenbild in der Wirtschaft?

Vor einigen Tagen habe ich einen Workshop für systemische Coaches und Berater gehalten, die von mir wissen wollten, wie das Thema „Agilität“ so breit Einzug gehalten hat in alle möglichen Firmen und Institutionen, die in vielen Fällen gar nichts mit Softwareentwicklung zu tun haben.

Wir kamen in einen spannenden Dialog über die Grundlagen und Prinzipien der Agilität, ihre Elemente, ihre Wirkungsweise, und schließlich ihre Voraussetzungen in der Organisation, in der sie eingeführt wird. Nahezu alle Management-Annahmen und -Praktiken scheinen nicht mehr zu passen, wenn eine Organisation aus selbstorganisierenden interdisziplinären Teams besteht.

Was tun mit der Pyramide der Hierarchie? Umdrehen?

Wenn der bisherige Top-Down-Manager zum Unterstützer seiner Mitarbeiter wird, zum Menschen- und Team-Entwickler, was passiert dann mit denen, die bisher ihren Selbstwert aus ihrer Position in der Pyramide gezogen haben? Wie können die sich verändern? Was motiviert sie vielleicht?

Eine spannende Frage stellte dann ein sehr erfahrener Coach und Berater: „Wie kommt es denn, dass ausgerechnet die gewinnorientierte Wirtschaft heute ein so positives Menschenbild gewonnen hat?“

Klar, ausgerechnet in vielen Technologiekonzernen wird heute selbstverständlich agil gearbeitet. Bedeutet dies, dass sie ihren Mitarbeitern zutrauen, intrinsisch motiviert zu sein und ihre beste Leistungen für das Unternehmen zu erbringen, wenn sich im Team selbst organisieren?
Die Frage nach der Motivation ist einfach zu beantworten: Hierarchie kann mit Komplexität nicht umgehen.

(Aus dem u.g. Buch von Frederic Laloux)

Die Welt ändert sich schneller als jemals zuvor. Neue Akteure treten in Erscheinung, die die Erwartungen, welche wir an Firmen und Institutionen haben, radikal verändern. Keine der bisher üblichen Organisationsformen kann damit umgehen. Ganze Industrien und Dienstleistungsbranchen werden im Handumdrehen Opfer disruptiver Konkurrenz.

Natürlich versuchen viele erst, die Veränderungen in der Produktentwicklung dort zu kapseln und den Rest der Organisation beizubehalten. Dann erleben sie, dass es nicht funktioniert. Die Teams werden vielleicht erst mal schneller im Entwickeln und Liefern. Dabei stoßen sie aber immer häufiger auf die Grenzen, ja Mauern des alten Systems und seiner bürokratischen Prozesse und seiner hierarchischen Entscheidungsstrukturen und werden unzufrieden, fordern mehr Freiheit oder gehen.

Normalerweise will das Top-Management die Veränderungen, weil es sie rational versteht und damit die Herausforderungen der VUCA-Welt meistern will. Die Teams auf der Arbeitsebene wollen sie auch, weil sie sie als Befreiung erleben, als echte Form der Arbeit direkt mit und für die Kunden.
Dazwischen befinden sich diese Schichten von Hierarchie, die sich immer wieder Pfründe, Macht, Einfluss, Kontrolle sichern wollen, und von denen nur ein kleiner Teil die Veränderungen unterstützt. Offiziell unterstützen sie es natürlich alle!

Einige reproduzieren ihr altes System mit ein paar Schleifchen dran, streichen es grün an und kleben ein paar moderne Namen an die alten Entscheidungsstrukturen. Es kommen noch ein paar Zentralabteilungen für Governance und Risikomanagement dazu, die immer noch danach incentiviert werden, Audits zu bestehen, statt danach, wie schnell die Teams hervorragende und sichere Produkte entwickeln können. – Und schon werden wieder alle ausgebremst.

In der Situation werden dann sowohl von unten als auch vom Top-Management Stimmen lauter, die eine ganz andere Institution fordern. Andere Werte und Prinzipien,die auch wirklich gelten. Vertrauen statt Bürokratie. Die Mitarbeiter als Erwachsene ansehen. Netzwerk statt Pyramide.

Das, was in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts noch eine Utopie war, ist heute ganz einfach das, was funktioniert, und wovon es immer mehr Beispiele gibt. Auch solche mit mehreren Tausend Mitarbeitern.

Frederic Laloux ist einer der Menschen, die am meisten solcher Unternehmen und Institutionen untersucht haben. Sein Buch„Reinventing Organizations“ hatte ich schon 2014 hier vorgestellt. Inzwischen hat er eine „visuelle“ Ausgabe davon herausgebracht, womit auch ein völlig ausgebuchter CEO noch eine Idee bekommen sollte, was er am besten gleich anfängt.

Ein ständig wachsendes Wiki www.ReinventingOrganizationsWiki.com versammelt alle Beispiele mit allen Prinzipien und Praktiken.

Auch er sagt, dass es keine Blaupausen und Checklisten für die Transformation in eine lebendige, organische Institution gibt. Man kann noch so viele Praktiken der Vorreiter kopieren. Ohne eigenen Sinn, echte gelebte Werte, wird man nicht dorthin kommen. Es lohnt sich, es zu versuchen, beharrlich dabei zu bleiben, und nicht aufzugeben. Das positive Menschenbild gehört in jedem Fall dazu.

Die 3 wichtigsten Punkte bei der Agilen Transition von Unternehmen?

Vor ein paar Tagen stellte mir jemand die Frage:

Was sind Deiner Meinung nach die 3 wichtigsten Punkte bei der Agilen Transition von Unternehmen?

Das ist eine wirklich interessante Frage, die ich kurz beantwortet habe, hier möchte ich noch ein bisschen tiefer ins Detail gehen.

Punkt 1: Start with why!
Die Firma, namentlich das TOP-Management, muss sich ganz klar sein, warum bzw. Wozu es eine agile Transition braucht. Heute ist ja meistens die Digitalisierung der primäre Treiber.
Das braucht aber mehr Strategie: was machen wir mit bestehender Software und Prozessen? Agile weiterentwicklung? Schnell ablösen? Wie sieht der Übergang aus? Was wollen wir mit unsern neuen digitalen Produkten, Prozessen, Ökosystemen erreichen?
Punkt 2: glaubwürdige Vision kommunizieren
Es braucht eine glaubwürdige Vision, die am besten vom CEO ständig kommuniziert wird. Oliver Gürtler von Microsoft hat das vor kurzem in einem Vortrag in Bezug auf deren CEO Satya Nadella mit „Konstante Überkommunikation“ bezeichnet. Wenn man es selbst gar nicht mehr hören kann, und glaubt, dass jeder Mitarbeiter die Vision im Schlaf kennt, dann kann man sie immer noch mal wiederholen. – In typischen Unternehmen passiert es immer wieder, dass das Top Management untereinander und mit den Beratern so viel über die Vision und die Strategie gesprochen hat, dass sie glauben, jeder wüßte Bescheid.
Punkt 3: Was ändert sich sofort? – Kulturwandel in Selbstorganisation
Der Kulturwandel wird von den Mitarbeitern im Rahmen von großzügigen Leitplanken und viel Vertrauen von oben selbst mitgestaltet. Das bedeutet nicht, dass man sich in einer bis dato hierarchisch verschlossenen Organisation einfach hinstellt und sagt, „Macht mal“. Die Leitplanken müssen auch umfassen, was man jetzt darf, was man vorher nicht durfte, und wo man sich das Know-How erst mal holen kann.
Bottom-Up-Veränderung und Top-Down Support müssen dabei Hand in Hand gehen.
Experimente und Fehler sind in Ordnung, da darf niemandem ein Vorwurf gemacht werden, der etwas gewagt hat das leider nicht geklappt hat. Im Gegenteil, gelungene und mißungenen Experimente sollten in der Kommunikation gleichermaßen herausgestellt und gelobt werden,wir lernen ja daraus.
Das Top-Management muss dabei helfen, Systemveränderung zu machen. Wenn die Silos der Organisation sich gegenseitig im Wege stehen, können die Mitarbeiter noch so schöne übergreifende Ablauforganisationen designen, in denen sie sich gegenseitig helfen. Irgendwann muss jemand an den großen Hindernissen arbeiten.
Es hilft für die Glaubwürdigkeit des Wandels, wenn einige symbolische, aber deutliche Veränderungen sofort verkündet werden und auch gleich passieren.
Dazu fällt mir gleich noch eine weitere Frage ein:
Was brauchen die Top Manager die den Change wollen und Menschen wie ich, die den Wandel treiben, für Eigenschaften?
Mut und Zuversicht,  sowie eine gute Mischung aus Ungeduld und einem langen Atem – nicht akzeptieren, dass etwas nicht geht, und es mit einer gewissen Beharrlichkeit verfolgen, dass es dann doch geht.

 Warum wir sofort aufhören sollten, für die drei Prozent zu managen 

Ein Freund arbeitet im Einkauf für eine Firma, die Designobjekte entwirft, in verschiedensten Ländern herstellen lässt und in eigenen Läden verkauft. Die Firma ist schnell gewachsen auf mehrere Hundert Mitarbeiter. Er begann seinen Job nach seinem Wirtschaftsstudium dort enthusiastisch, doch nach kurzer Zeit war er desillusioniert. Was ist passiert?

1-2016-08-011

Na ja, er und seine Kollegen haben Zugang zu allen Zahlen, machen sorgfältige Berechnungen, diskutieren ihre Hypothesen über die Verkäufe der nächsten paar Monate, und stellen danach ihre Bestellungen zusammen. Was dann passiert, ist, dass der oberste Chef die Bestellungen anschaut, und ohne Rücksprache mit den Zuständigen die Mengen nach seinem Gusto ändert. Weder fragt er sie nach Begründung ihrer Entscheidungen, noch gibt er eine für seine – er macht einfach den Job der anderen.

Welche Auswirkung hat wohl dieses Verhalten auf die Arbeitmoral der Mitarbeiter?  Ja genau, eine desaströse.

Die Wirtschaftsjournalisten Brian M. Carney und Isaac Getz beschreiben in ihrem spannenden Buch „Freedom, Inc“ von 2009 den  Unterschied zwischen  „Wie“-Firmen und „Warum“-Firmen: in einer „Wie“-Firma herrscht eine Top-Down Hierarchie, die alles entscheidet, oft auch nicht entscheidet, und so die Kreativität ihrer Mitarbeiter und deren Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, im Keim erstickt. Das ist das arbeitsteilige Modell, das wir auch unter „Taylorismus“ kennen, entstanden in der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts in Mittelengland, damals ökonomisch sinnvoll, um mit unausgebildeten Arbeitern die Massenproduktion zu beginnen. Die Auswirkung auf die Mitarbeiter war allerdings damals schon desaströs – das Gefühl, keine Kontrolle über die eigene Arbeit zu haben, ist ein großer Stressfaktor.

41brdhmhunl-_sx349_bo1204203200_Eine „Warum“-Firma ist dagegen darauf aus, ihren Mitarbeitern die größtmögliche Freiheit zu geben, ihr Potential auszuschöpfen und den bestmöglichen Job zu machen. Damit aus Freiheit keine Anarchie wird sondern eine koordinierte Anstrengung in eine gemeinsame Richtung,  braucht es eine starke gemeinsame Vision, gemeinsame Werte, und eine gute Strategie, die von der Unternehmensleitung ständig kommuniziert und auch immer wieder an neue Gegebenheiten angepasst wird. Eine notwendige Bedingung ist auch, dass alle auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, und die Manager ihren Mitarbeitern Hindernisse aus dem Weg räumen.

In dem Buch schildern sie viele Beispiele,  wie Visionäre Unternehmer oder Manager eine Firma von „Wie“ zu „warum“ umgewandelt haben. Wichtig ist die Abschaffung der unzähligen Vorschriften, Anträge und Formulare, die in „Wie“-Firmen dafür sorgen, dass alle Mitarbeiter ständig beschäftigt sind – nur eben nicht hauptsächlich damit, Wert für die Kunden zu schaffen, sondern damit, Prozesse und Stabsstellen zufrieden zu stellen, die zu ihrer Kontrolle eingeführt wurden, weil die Firma ihren Mitarbeitern nicht vertraut. Dies ist nämlich das „Managment für die 3 Prozent“, wie es Gordon Forward genannt hatte: aufgrund der Möglichkeit, dass einzelne Mitarbeiter etwas falsch machen oder einen Vorteil für sich gewinnen könnten, erfinden die Fimen Unmengen von Vorschriften, die alle Mitarbeiter ständig Zeit und Motivation kosten.

1-2016-08-016

Die in dem Buch geschilderten Beispiele überschneiden sich mit denen aus Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Orgaizations“. Was an „Freedom, Inc.“ besonders spannend ist, ist die Konzentration auf die Rolle und Tätigkeit des CEOs, den Veränderungsprozess an sich und die Aufnahme auch von gescheiterten Versuchen, aus denen man oft noch mehr lernen kann. Wie das mittlere Management zurückschlägt in der dänischen Hörgeräte-Firma Oticon, nachdem der neue CEO praktisch eine Revolution gegen die gesättigte, behäbige Hierarchie angezettelt hatte, die der Meinung war, sie lieferten absolute Premium-Produkte, während sie gerade dabei waren, dem Umschwung von analoger zu digitaler Technologie auf ihrem Markt zu verschlafen und schon beinahe abgehängt waren. Kurzfristig hatte er wohl durchschlagenden Erfolg, da die Mitarbeiter den Umgang auf Augenhöhe schätzten und ungeahntes Potential freisetzten. Mittelfristig versäumte er jedoch, seine Vision zu erneuern, laufend mit den Mitarbeitern und Führungskräften darüber zu diskutieren und so die veränderte Kultur zu erhalten. So konnte das alte Immunsystem der Bürokratie alte Machtverhältnisse über neue Gremien wieder etablieren. – Sehr interessant zu lesen und sehr wichtig, wenn man einen nachhaltigen Veränderungsprozess in einer gewachsenen Organisation erreichen will.

Wie werden unsere Führungskräfte agil? – #AgileHRConference 2015

Diesen Blogpost schreibe ich inspiriert durch die Vorträge bei der 4. Agilen HR-Konferenz in Köln, und einen Open Space zum Thema „Training für agile Führungskräfte“, den ich dort moderiert habe.

Open Spaces bei der #agilehrconference

Während viele der anwesenden HR-Expertinnen die Meinung vertraten, dass sich die Anforderungen an die Führungskräfte agiler Teams gar nicht sehr von denen unterscheiden, die heute allgemein an solche Personen gestellt werden, waren wir uns alle einig, dass diese Trainings in der Praxis sehr nötig sind. Das gilt vor allem in IT- oder R&D – Organisationen, wo sich Führungskräfte häufig aus den Fachexperten rekrutieren, die nun mal wenig Hintergrund in Führung haben.

Inhalte solcher FührungskräfteTrainings können sein:

  •  mich führen, Mitarbeiter führen, das Unternehmen führen
  • Aufgaben und Verantwortung delegieren
  • Entscheidungsbefugnis geben (Delegation Board aus Management 3.0)
  • Mikromanagement abgewöhnen und durch Vertrauen ersetzen
  • Vertrauen als Mechanismus zur Reduktion der Komplexität (Luhmann. ..)
  • X-Modell versus Y-Modell vom Mitarbeiter
  • Die Stärken der Mitarbeiter stärken, nicht so sehr an Schwächen herumdoktern
  • Fehlerkultur trainieren. Fehler machen dürfen und daraus lernen
  • Feedback geben und annehmen
  • kollegiale Fallberatung – nicht Einzelkämpfer sein als Führungskraft
  • Wahrnehmung
  • Gewaltfreie Kommunikation
  • Agile Werte und Prinzipien
  • Lean – Themen wie Respekt vor Menschen, kontinuierliche Verbesserung, one piece Flow

 

Als Strategie zur Implementierung versorgen wir zuerst die Führungskräfte mit Trainings die das wollen, um gute Erfahrungen zu sammeln und einen Sog in die Richtung agiler Führung zu erzeugen. Ihnen richten wir Communities ein, in deinen sie sich im geschützten Raum face-to-face über Fallbeispiele austauschen können. Es macht auch Sinn eine komplette Einheit zu trainieren, wenn darüber ein Grundkonsens da ist, so dass sich alle gegenseitig helfen können.

Als nächstes ist wichtig, dass gute Beispiele agiler Führung im gesamten Unternehmen wie Leuchttürme wirken. Wenn der Präsident oder CEO durch Storytelling Agiles Führungsverständnis positiv heraushebt und nicht so agiles Verhalten als nicht nachahmenswert darstellt, kann sich insgesamt etwas bewegen, da man so auch die späte Mehrheit erreicht.

Es gab noch eine längere Diskussion über 360-Grad-Feedback. Dies ist auch ein bewährtes Instrument zur Entwicklung der Führungskräfte, nicht speziell agil. Ein gutes 360-Grad-Feedback besteht nicht nur aus einer Online-Beurteilung durch Führungskraft und Team, sondern auch aus einem face-to-face Workshop. Dieser wird durch HR oder extern moderiert und gibt den Mitarbeitern Gelegenheit, nach Vergleich der Ergebnisse zu verschiedenen Themen Beispiele zu erzählen und Maßnahmen zu formulieren. Die Ergebnisse werden auch mit dem Vorgesetzten darüber geteilt, der auch eine eigene Einschätzung abgibt.

Unterschiedliche Meinungen gibt es zum Thema der Freiwilligkeit – einige Firmen fordern ein 360-Grad-Feedback alle zwei Jahre und HR überprüft das auch. Andere setzen auf die freiwillige Anmeldung – altmodische Comand&Control-Führungskräfte können so allerdings, bei freiwilligen Trainings UND freiwilliger Diagnose, ihren ungeeigneten Führungsstil beibehalten. Bei Führungskräften höherer Stufen ist auch immens wichtig, alle Mitarbeiter zu fragen, nicht nur die direkt darunter.

Insgesamt gab es bei der Konferenz eine gute Mischung aus Führungskräften, HR-Professionals und agilen Praktikern. Dadurch waren gerade die Open Spaces sehr inspirierend, und auch die Diskussion nach dem Film „Augenhöhe“, den ich schon in meinem vorherigen Blogpost erwähnt hatte, und der auch dort gezeigt wurde.

Begeistert haben mich auch eine ganze Reihe Vorträge, z.B. der Vortrag von Seibertmedia über extreme agile Leadership.

Wozu brauchen wir Frameworks für Scrum im Großen wie #LeSS und #SAFe ?

Es gibt mittlerweile zwei Frameworks für Scrum im Großen:

Dean Leffingwell und seine Firma haben 2011 das recht ausführliche SAFe oder Scaled Agile Framework online gestellt und schieben nummerierte Updates nach. Es illustriert eine sehr elaborierte große agile Organisation.

Bas Vodde und Craig Larmann folgten 2014 mit LeSS oder Large Scale Scrum, welches auf ihren sehr hilfreichen Büchern von 2009 „ Scaling Lean und Agile Developement: Thinking and Organizational Tools for Large-Scale Scrum“ und 2010 „Practices for Scaling…“ basiert. Das ist ein sehr schlankes Framework, das die Bücher nicht ersetzt, sondern eher einen guten Einstieg in alle Themen bietet.

In den letzten Monaten werde ich immer häufiger gefragt, ob man ein solches Framework bei der Einführung von Scrum in großen Organisationen verwenden soll. Dahinter stehen Fragen wie ob es einfacher wird, kostengünstiger, man weniger lesen muss, oder gar ob man es fertig kaufen kann und nur noch ausrollen lassen muss.

Gerade der Ansatz von SAFe suggeriert dies: es ist bewährt, oft erfolgreich angewendet worden. Und das Ausrollen in einer beliebig großen oder komplexen Organisation erfolgt durch eine Serie von zertifizierten Trainings durch zertifizierte Trainer, die es praktischerweise in vielen Ländern gibt.
Drei Schritte: Training für die internen Coaches, Training für das Management, dann für die Teams – als komplette Release-Trains innerhalb von 5 Tagen. Und fertig? – Na ja, da braucht man für viele Situationen dann doch noch erfahrene externe Coaches, denn gelernt ist ja nicht wirklich gekonnt, und was man noch nicht selbst angewendet hat, kann man auch schlecht coachen.

Ich weiß noch, wie viel und wie lange wir diskutiert haben bei der Einführung von Scrum in unserer großen und verteilten Organisation. Dabei hatten wir viele Voraussetzungen schon im Laufe der Vorbereitungen geschaffen, z.B. Testautomatisierung für den bestehenden Code erhöht, häufigere Builds, und Informationen über vorhandene technische Schulden gesammelt und ins Backlog integriert. Aber schon allein die Tatsache, dass die Verteilung der Organisation über die verschiedenen Standorte ganz anderen Kriterien folgen musste als vorher, da wir ja gemischte Teams wollten, die ganze Features entwickeln und testen können, hat schon viel Kopfzerbrechen verursacht. Es sollten viele Leute in anderen Rollen arbeiten als zuvor. Einige Rollen hatten wir an bestimmten Orten zum ersten Mal. Wie viele Feature Areas sollten wir bilden, und wer war für welche Feature Area als Area Product Owner geeignet? Alle diese Dinge kann man entscheiden, wenn man sich schon eine Weile damit auseinander gesetzt hat und erfahrene Sparringspartner hat.

So ein Framework kann einem dabei helfen, alle Gebiete zu finden, über die man nachdenken muss. Es kann einem ein paar Lösungen zeigen, die sich schon bewährt haben – was natürlich wieder in bestimmten Organisationen mit bestimmten Kontexten und Randbedingungen war. Die Bücher von Vodde und Larman haben uns damals sehr geholfen, weil sie nicht als Bibel daher kamen, sondern mit Mustern, die man unter bestimmten Umständen sinnvoll anwenden kann, die aber unter anderen Umständen heftig scheitern können. Manchmal haben sie sogar empfohlen, Muster die sie zuvor als falsch und un-agil dargestellt hatten, in bestimmten vertrackten Situationen dennoch als Workaround einzusetzen.

Auch im Scaled Agile Framework haben wir einige interessante Lösungen gefunden, z.B. das Verhältnis zwischen Kundenfeatures und technischen Features und wer dafür sorgt, dass beide hoch genug priorisiert werden – siehe Program Backlog. Man muss eben nur auch hier alles als Anregung sehen, was in bestimmtne Kontexten funktionieren kann.

Meinen Erfahrungen entspricht, was im LeSS Framework zum Ausrollen gesagt wird: Eine agile Transition funktioniert weder nur top-down noch nur bottom-up, sondern es muss immer in beide Richtungen gehen. Lieber anfangs eine kleine Abteilung oder ein kleines Produktteam umstellen, und das richtig tief, dabei wirklich gut experimentieren und lernen – und dann in der größeren Organisation ausbreiten und mehr lernen. Viel mit Freiwilligen machen, so dass Selbstorganisation auch zum Ausrollen der Selbstorganisation verwendet wird!

Mit einem solchen Ansatz ist die Verwendung eines Frameworks für Scrum im Großen sinnvoll. Die eigentliche agile Transition bleibt dabei immer in den Händen der Organisation, die sie tun will, und die ja auch die Verantwortung für ihre wirtschaftlichen Ergebnisse, ihre Experimente und ihr Lernen hat. Die externen Coaches können nur unterstützen.

LeSS works

– Vor einigen Tagen haben sich übrigens ein paar Freiwillige aus verschiedenen Firmen zusammen gefunden, um das Large Scale Scrum Framework ins Deutsche zu übersetzen. Wer Interesse hat, dabei mit zu machen, kann gerne der Xing-Gruppe beitreten und mich kontaktieren! https://www.xing.com/communities/groups/large-scale-scrum-8e98-1052168

Demokratie im Unternehmen: Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Organizations“

Buch: "Reinventing Organizations"Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Organizations“ ist ein besonderes Wirtschaftsbuch: es handelt von Firmen in Selbstorganisation – das ist außerordentlich spannend und trifft einen Megatrend des aktuellen Jahrzehnts.

Frederic Laloux gibt erst mal den soziologisch-historischen Kontext der Menschheitsentwicklung seit der Steinzeit, und  ordnet in diesen die Organisationstypen ein, die in diesem Kontext jeweils möglich und auch vorherrschend waren. Dabei entwickelt er ein Farbspektrum für Organisationen, von Infrarot bis zu heutigen orangen, gelben und grünen Organisationen jeweils mit ihren Hauptmerkmalen: ihre Grundannahmen über die Welt, ihre Fähigkeiten, zu planen, mit Komplexität umzugehen, zu skalieren, und auf unerwartete Ereignisse zu reagieren. Organisationen mit völlig unterschiedlichen Wertsystemen koexistieren und konkurrieren. Heute – in den letzten paar Jahrzehnten kommen Organisationen ins Spiel, die vielleicht erst aufgrund der komplexen Erfahrungen von Menschen in der heutigen Welt möglich sind, und die die Fähigkeit haben, sich selbst zu steuern und in kurzen Iterationen weiter zu entwickeln.

Ich finde diese Sichtweise interessant, zumal er sie auch auf die menschliche Entwicklung anwendet:  Als Mensch kann man mit zunehmender Reifung seiner intellektuellen und sozialen Fähigkeiten von verschiedenen Farbstufen aus agieren. Das wird aber mit  beeinflusst von den Anregungen, die die Umgebung gibt, die Systeme, in denen die Menschen leben. Eine Schule, die im hierarchisch-gelben Muster erstarrt ist, wird also keine große Menge evolutionärer Kreativwesen hervorbringen – wenn nicht der Mensch solche Anregung in anderen Organisationen in seiner Umgebung findet.

Ist in der gelben Organisation alles bereits festgelegt durch die Stellung des Menschen in der Organisation (Schule, Kirche, Armee), so ist in der orangen Organisation alles abhängig von den Zielen, die man dem Mitarbeiter setzt und die er in egoistischer Weise zu erreichen versucht, um seinen Bonus zu verdienen (so die Konzern-Philosophie seit den 1990er Jahre).  Grüne Organisationen gibt es, wenn überhaupt, im non-profit Bereich, mit Konsensentscheidungen und Gleichlohnprinzip.

Die neuen, evolutionär-petrolfarbenen Organisationen gehen von einem fundamental anderen Weltbild und Menschenbild aus als ihre Vorläufer: Es gibt Vertrauen in den Gemeinsinn des Individuums, ohne dass alle gleich sein müssen, oder auch nur das gleiche wollen. Man traut den Menschen zu, unterschiedliche Ziele und Bedürfnisse in einen gemeinsamen Kontext zu bringen. Die Einzelnen dürfen unterschiedlich stark beitragen, und man traut ihnen sogar zu, diese unterschiedlichen Beiträge untereinander gerecht zu bewerten. Das Menschenbild dieser Organisationen geht nicht von einer inhärenten Begrenzung, sondern einer nahezu unbegrenzten Lernfähigkeit der Menschen aus. In der Selbstorganisation in bunt gemischten Teams liegt die Fähigkeit, sich leicht an die Notwendigkeiten der Kunden anzupassen, auszuprobieren, zu lernen, und mehr richtige Entscheidungen zu treffen als hierarchische Organisationen das können. Dabei wird die Firma nicht als Maschine mit festgelegten Prozessen gesehen, sondern als lebender Organismus.

Die Beispiele aus der Realität, die der Autor heranzieht, sind dabei erfrischend unterschiedlich, hier nur 4 von rund einem Dutzend:

  • Buurtzong – eine gemeinnützige Firma für häusliche Altenpflege in den Niederlanden (7000 Mitarbeiter/innen)
  • FAVI – ein Hersteller für Spezial-Metallteile in Frankreich (500 Mitarbeiter/innen)
  • Morning Star – ein Lebensmittelverarbeiter in den USA (400-2400 Mitarbeiter/innen)
  • Sun Hydraulics – eine globale Firma für hydraulische Komponenten global (900 Mitarbeiter/innen)

Diese Organisationen, so unterschiedlich ihr Arbeitsgebiet und ihr Markt sein mögen, haben viele wichtige Probleme und Fragen ähnlich gelöst.

  • Die Grundstruktur besteht aus übersichtlichen Teams, die sich selbst verwalten und organisieren.
  • Die Teams kümmern sich um Einstellungen, Gehaltshöhe, und Beurteilung / Feedback
  • Es gibt kein mittleres Management, sondern in der Regel nur Coaches, oder aber auf Zeit oder für ein bestimmtes Projekt gewählte Führungskräfte.
  • Es gibt eine hohe Transparenz bei allen wichtigen Informationen
  • Entscheidungsprozesse sind radikal vereinfacht. Es besteht die Möglichkeit für Mitarbeiter/innen, Entscheidungen nach einem Konsultationsprozess direkt zu treffen
  • Ein Grundprinzip ist Vertrauen statt Kontrolle nach dem Motto „Wir sind alle erwachsen“.
  • Die Betriebe haben meist auch einen expliziten Wertekodex, den sie mit den Mitarbeiter/innen erarbeitet haben und den sie neuen Mitarbeiter/innen vermitteln
  • Umgang miteinander und Konfliktlösung sind wichtige Trainingsthemen

In einem früheren Blogeintrag habe ich die brasilianische Firma Semco SA besprochen, die sich bereits seit den frühen 1980er Jahren  in Brasilien in eine selbstorganisierende Firma umgewandelt hat. Sie ist den beschriebenen Fällen sehr ähnlich. Faszinierend finde ich an den Beispielen, dass Selbstorganisation nur Vorteile zu haben scheint: Die Ergebnisse liegen alle weit über dem jeweiligen Branchen-Durchschnitt in Rentabilität und Kundenzufriedenheit. Es gibt meist eine sehr niedrige Fluktuation der Mitarbeiter/innen gepaart mit hoher Zufriedenheit und Motivation. Es gelingt diesen Firmen außerordentlich gut, plötzlich auftretende Probleme zu lösen, wie auch sich an Krisen und veränderte Marktgegebenheiten anzupassen.

Wenn man bedenkt, dass es in vielen Beispielen, wo langjährig erfolgreiche Firmen plötzlich vom Markt verschwinden, daran liegt, dass das Management nicht in der Lage ist, wirklich gute Entscheidungen zu treffen die die Situation fundamental ändern, während in der Belegschaft oft schon lange warnende Stimmen zu hören waren, dann kann es gut sein, dass die selbstorganisierende Firma zur vorherrschenden Gruppe im 21. Jahrhundert werden wird. Auf jeden Fall zur interessantesten.

Werfen wir abschließend einen Blick auf „agile“ Firmen, die Softwareprodukte entwickeln, so ist unter den in den letzten Jahren gewachsenen, erfolgreichen Firmen auch so manche zu finden, die ähnliche Konzepte wie die in dem Buch beschriebenen verfolgt. Demokratische Strukturen in der ganzen Firma harmonisieren nun mal viel besser mit agiler Entwicklung als eine „Command-and-Control“-Hierarchie. Z.B. habe ich in letzter Zeit die Beiträge von Henrik Kniberg, agiler Coach bei Spotify, angeschaut, z.B. seinen Vortrag Culture Over Process“ (agile66, Bangkok, 2013) – Hier ein Video und die Folien dazu. Bei dieser Firma sind trotz rasanten Wachstums auf über 300 Entwickler demokratische Strukturen, selbst organisierende Teams, Coaches, und eine agile Kultur in der DNA enthalten. Hier sieht man auch deutlich, dass agile Praktiken sich viel schneller und nachhaltiger entwickeln, wenn die Organisation drumherum nicht hierarchisch ist, und Entscheidungen wirklich auf der niedrigst möglichen Ebene getroffen werden. Von solchen Firmen mit agiler Kultur werden wir noch viel hören!

Die ALE2012 Unconference ist vom 29.-31.8.2012 in Barcelona

Das europäische Agile und Lean-Netzwerk trifft sich in diesem Jahr in Barcelona – der Termin steht jetzt fest.
http://ale2012.alenetwork.eu/2012/01/10/meet-barcelona-on-29th-31st-august/

Diese „Unkonferenz“, die 2011 zum ersten Mal mit 225 Teilnehmer/innen aus 28 Ländern in Berlin stattfand hat eine besodere Bedeutung für die europäische Gemeinschaft derjeniger, die mit agilen Methoden Softwareprojekte durchführen und die diese Methoden verbreiten. Das Ale-Network hat sich im Februar 2011 auf Anstoß von Jurgen Appelo in LinkedIn gegründet und war sehr schnell auf mehr als Tausend Mitglieder angewachsen. Es steht für ein wachssendes europäisches Selbstbewußtsein in der Softwarecommunity, aber auch für eine unglaubliche Vielfalt von Nationalitäten und Kulturen. Es eint uns alle, dass wir in selbstorganisierenden Teams qualitativ hochwertige Software für die Nutzer herstellen wollen. Dabei reicht das Spektrum der Teilnehmer/innen von Betreibern kleinen Startups bis hin zu Angestellten aus großen traditionellen Firmen, die im Entwicklungsbereich von der Beweglichkeit eines Öltankers zu der von vielen kleinen Speedbooten gelangen möchten. Studierende und Dozenten von Universitäten sind ebenso vertreten, wie unabhängige Beraterinnen und Buchautoren. – Das Spektrum der Veranstaltungen reicht vom Vortrag über Workshops bis hin zu großen Anteilen von „Open Space“, wo Teilnehmerinnen spontan Diskussionsgruppen zu Themen anbieten.
Wir freuen uns auch in diesem Jahr auf viele interessante Beiträge. In den nächsten Tagen wird sich die Programmgruppe das erste mal treffen, und bald können dann die ersten Beiträge eingereicht werden.

Rückblick auf’s vergangene Event:
http://andreasagileblog.blogspot.com/2011/09/incredibly-intensive-1st-ale2011.html

Wie viele Engel passen auf eine agile Nadelspitze?

Manchmal lese ich Einträge in agilen Diskussionsgruppen, die mir gelinde gesagt etwas ab vom Thema erscheinen. Da rechnet jemand vor, wie man die exakte Länge jeder agilen Sitzung abhängig von der Sprintlänge berechnen kann. Oder jemand fragt, wie man nun die Produktivität von zwei seiner Scrum-Teams vergleichen kann, welches denn besser ist. – Ob es irgendein Tool oder eine Metrik dafür gibt? Hat jemand Erfahrung damit?

Bei solchen Einträgen frage ich mich schon, wie es um die Motivation des Fragenden bestellt ist, und wie weit er eigentlich die Prinzipien von agiler Softwareentwicklung verstanden hat?

Ich würde ihn rückfragen: ob er denn weiss, wie motiviert seine Entwickler/innen sind? Ob sie in ihren Retrospektiven in letzter Zeit spannende Dinge zum Verbessern gefunden haben, die sie produktiver gemacht haben? Ob er irgendwelche organisatorischen Hindernisse in seiner Firma oder Abteilung kennt, die er vielleicht selbst für die Teams wegräumen könnte, damit sie noch motivierter und noch produktiver arbeiten? Ob die Teams mit der Vision, die sie von ihrem Product-Owner bekommen, zufrieden sind, ob sie so anschaulich ist, dass sie sie auch um drei Uhr nachts noch sagen könnten, wenn sie jemand aufweckt? Ob die Entwicklungsumgebung, mit der sie arbeiten (müssen) so geartet ist, dass sie ständig im Fluß bleiben können, oder ob sie doch öfter Kaffee holen müssen, als sie eigentlich möchten?

Wenn so ein Manager oder Consultant insofern seine Hausaufgaben gemacht hat, dass er all das weiß, weil er so oft wie möglich in der Nähe der Teams ist, direkt von ihnen hört, was die Probleme sind, und alles, was man grundsätzlich in der Organisation lösen muss, zumindest angeht, Fortschritte erzielt hat, und den Leuten die Mittel zur Verfügung gestellt hat, um die richtig heftigen Probleme zu lösen – dann, ja dann, dürfte er solche Fragen stellen, aber dann, bin ich überzeugt, will er es gar nicht mehr. Braucht er nicht mehr – dann ist es einfach eine Freude, den Teams bei der Arbeit zuzuschauen, denn dann stecken sie voller intrinsischer Motivation.

%d Bloggern gefällt das: