Häppchen aus der neuen Arbeitswelt 4.0. – das „New Work Quartett“ von @QundG angewendet auf die @Datev

Die Kollegen in der Datev entdecken immer mal wieder was spannendes. Ein Scrum Master hat Leute von „Quäntchen und Glück“ auf irgendeiner Konferenz getroffen und hat ein „New Work Quartett“ bekommen. Klingt spannend, zumal das Thema mich hier schon seit Jahren beschäftigt: SEMCO als Vorreiter aus den 1980er Jahren, unsere selbstorganisierte Software-Firma aus den 1990ern, alles was mit Agilität zusammenhängt, die „Augenhöhe“-Bewegung in der deutschen Arbeitswelt, Frederic Laloux‘ „Reinventing Organizations“, und schließlich meine Arbeit der letzten Jahre mit den Führungskräften der Datev.

Puh! Ganz schön spannend. Also schreibe ich an jacob.chromy@qundg.de und bekomme netterweise auch so ein Quartett zugeschickt. Wenn ich beim Durchblättern Informationen brauche, kann ich auf der Website von QundG zu den einzelnen Themen mehr lesen.

Schließlich wähle ich mir 3 Quartette, die ich hier mal schnell Revue passieren lasse:

1. Die Dinge, die es in der Datev schon „immer“ gibt. – Dazu muss man wissen: Datev war ein Startup der 1960er Jahre, ist als Genossenschaft von Steuerberatern gegründet worden und war seitdem ein stetig wachsendes IT-Unternehmen. In Laloux‘ Farbensprache würde ich es als gelb-grün bezeichnen – eine mitarbeiterorientierte Hierarchie. Dazu passt mein erstes Quartett:

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Als ich vor 4 Jahren zu Datev kam, waren die Arbeitszeiten bereits flexibel. Es gab schon Leute, die von Zeit zu Zeit im Homeoffice arbeiten konnten, und Überstunden werden generell abgefeiert. Daneben gibt es eine ganze Menge soziale Wohltaten für die Mitarbeiter. Getränke sind nicht ganz for free, aber in enger Näherung. Im Sommerhalbjahr kostet eine Flasche 0,75 Mineralwasser 12 Ct. Der Latte Macchiato wird das ganze Jahr über für 57 ct von einem hyperintelligenten Automaten hergestellt. – Günstiges Mittagessen, dazu den Zwischenverkauf, Automaten, Sofaecken, Massagesessel… Ok, lassen wir das.

2. Interessante Neuerungen der letzten 5 Jahre:

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Arbeitsgruppen gibt es viele: „Communities of Practice“ wurden in den letzten 5 Jahren für alle möglichen Rollen und Themen gegründet, von der sehr aktiven Software Craftmanship Community bis zum Austausch für agile Führungskräfte. Aber auch für Veränderungsthemen haben wir solche gegründet, fast immer hierarchie- und rollenübergreifend.

„Usability Testessen“ mit echten Endkunden gibt es bei den neueren webbasieren Produkten.

Digitale Weiterbildung: Unsere Weiterbildungsabteilung setzt nicht mehr nur auf Präsenzkurse, sondern hat längst virtuelle Sites wie „Lynda“ für uns eingekauft.

Bewerber: Kollegen, die sich beispielsweise dafür interessieren, sich auf eine der Stellen bei uns in der Entwicklung zu bewerben, werden regelmäßig mit Bewerber-Lounges mit Häppchen und im letzten Jahr auch schon einmal mit gemeinsamem Grillen beglückt. Dort können sie dann eine ganze Reihe Leute aus der Entwicklung kennen lernen, mit denen sie über unterschiedliche Stellen, aber auch über agile Methoden und Communities sprechen können.

3. Nicht exakt gleiche, aber ähnliche Innovationen wie diese von QundG können wir auch schon anbieten:

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Aus Hackathon und Quarantäne wird unsere „Schatzsucherwoche“: ein cross-funktionales Team aus Mitarbeitern und Kunden zieht sich für eine Woche irgendwohin zurück – ohne Mail, ohne Telefon – und entwickelt aus ein paar Ideen eine User Journey und setzt diese prototypisch um – ähnlich wie im „Sprint“ bei Google.

Eine „Quäntrale“ haben wir auch: Unser IT-Campus ist schon seit dem Erstbezug in 2015 ziemlich cool eingerichtet, mit vielfältigen Rückzugsräumen und roten Sofas. Seit 2018 ist das obere Stockwerk für Activity Based Working noch vielfältiger neu hergerichtet, für zwei große Produktteams nach ihren jeweiligen Wünschen und Bedürfnissen. Terasse und vier sonnige Innenhöfe locken uns, und der Park mit Rosengarten auch die gesamte Nachbarschaft an die Sonne.

Offsites haben wir auch für alle möglichen Gruppen, und es geht hier ebenso um das bessere Kennenlernen und um eine gemeinsame Sicht der Dinge zu bekommen – vom Agilen Transitionsteam mit 5 Leuten über den Scrum Master Tag mit 70 Leuten bis hin zum Learnathon für alle Führungsrollen mit mehreren Hundert Leuten im VIP-Bereich des Stadions.

So, das war der Quartett-gestützte Einblick in die Arbeitswelt 4.0. bei der Datev. Natürlich hat „Quäntchen und Glück“ noch ein paar andere Themen zu bieten. Nicht ohne Grund haben sie ja 32 Karten herausgegeben. Wer die anderen kennenlernen will: siehe oben.

Permafrostböden #agil auftauen – ein Open-Space-Thema beim #ScrumDay2018

Dieses Problem kennen alle, die in einer historisch gewachsenen Hierarchie agile Methoden einführen. Das Top-Management weiß, dass man sich zu einem Kunden- und Mitarbeiter-zentrierten Unternehmen mit kurzen Feedback-Schleifen wandeln muss, um heute am Markt zu bestehen. Die Mitarbeiter lernen die Methoden, wenden sie an und fühlen sich meist bald besser, weil sie mehr positives Feedback bekommen und mehr Sinn in ihrer Arbeit sehen. Wenn – Ja wenn ihnen nicht der „Permafrostboden“ in die Quere kommt, die zwei bis viele Schichten des mittleren Managements dazwischen. Was tun?

Das war grob die Fragestellung, die ich im Open Space beim Scrum Day in Filderstadt klären wollte. Daraufhin kamen etwa 40 Kolleginnen und Kollegen aus kleinen bis ganz großen Unternehmen, von denen so einige bekannten, auch Elemente dieses Permafrostbodens zu sein. Allen war aber gemeinsam, dass sie das Thema ernsthaft und ohne Polemik diskutieren wollten, denn es ist zweifellos real.

Wer sind diese Führungskräfte und wie sind sie in ihre Positionen gekommen?

Oft in einer ganz anderen Zeit und mit einer anderen Motivation, als wir heute brauchen würden. Das existierende System hat sie für bestimmtes Verhalten belohnt oder bestraft, in diesem System waren sie erfolgreich. Deshalb kann der Change im Extremfall eine Generation lang dauern, war da zu hören.

Das ist natürlich für viele zu lang. Wo es oft funktioniert, ist wenn eine Firma so wirklich am Abgrund steht, Zehntausend Meter tief, für alle sichtbar, und man dann einen tiefgreifenden Umbau in die richtige Richtung vornimmt. Für die anderen Unternehmen, vor allem die, die richtig lang schon erfolgreich sind, heißt es, die Führungskräfte nach und nach abholen und auf ihre Ängste richtig reagieren.

Welche Ängste haben sie?

Für sich selbst fürchten sie den Verlust von Position und Gehalt, Macht, Status und Anzahl der Mitarbeiter. Sie haben Angst davor, dass Teams zwar Entscheidungen treffen, aber sie weiter dafür verantwortlich gemacht werden. Sie fühlen sich verantwortlich für ihr Mitarbeiter, dass diese den Change schaffen und nicht unter die Räder kommen. – Daher müssen wir diese Führungskräfte überzeugen, dass die Veränderung gut für sie und für die Mitarbeiter ist, und ihnen ermöglichen, sie aktiv mit voran zu treiben.

Was ist der Knackpunkt der Veränderung?

In der neuen Organisation gibt es selbstorganisierte cross-funktionale Teams, die sich miteinander koordinieren über priorisieren Backlogs, Product-Owner-Meetings, Scrum of Scrums und Communities of Practice. Jedenfalls nicht rauf und runter über Hierarchien. Es braucht also weniger Führungskräfte, und alle in neuen Rollen:

  • Peoplemanager kümmern sich als Sparringspartner und Coach um die Weiterentwicklung der Mitarbeiter
  • Wer fachlich firm ist, die Kunden gut versteht und priorisieren kann, wird Product Owner, und
  • Wer gerne den Teams Hindernisse aus dem Weg räumt und Prozesse vereinfacht, wird Scrum Master.

Wie kann man die Führungskräfte beim Change mitnehmen?

Am häufigsten wird genannt, dass man die Führungskräfte aktiv in die Veränderung einbeziehen muss. Zunächst einmal gibt es da zwei Hindernisse: die genannten Ängste, und das nötige Know-How.

Für beiden braucht man Geduld und Offenheit und spezielle Veranstaltungen, bei denen sich die Führungskräfte miteinander die neue Arbeitsweise quasi erarbeiten. Aus verschiedenen Firmen wurde berichtet, dass es Veranstaltungen gab, wo sie lernen, im Team miteinander an Lösungen von Problemen zu arbeiten, ähnlich wie wir das auch in der DATEV gemacht haben. Man erarbeitet mit den Führungskräften, welche der neuen Rollen wofür verantwortlich sein wird. Es wird auch ein auf die FK zugeschnittenes Fortbildungsangebot zusammengestellt.

Sehr gut ist es auch, von anderen in derselben Situation zu lernen: Führungskräfte aus ähnlichen Unternehmen oder anderen Teilorganisationen sprechen über ihre Erfahrungen mit dem Change, und sie nehmen die andren mit z.B. in öffentliche Reviews ihres Produktes, wo die Teams nach jedem Sprint ihre Fortschritte zeigen. Wer die Energie und den positiven Spirit in so einem Review erlebt hat, wird deutlich weniger Angst um seine Mitarbeiter haben.

Das Top-Management verspricht, dass jeder der die Veränderung mitmacht, im neuen Job mit der bisher erreichten Position und dem Gehaltsniveau einsteigen wird. Gleichzeitig verändern sie das System, d.h., wofür man in der neuen Organisation gelobt und befördert wird oder Gehaltserhöhung bekommt, orientiert sich am Bedarf einer agilen Organisation. Ebenso, ob man noch beurteilt wird und wie.

Für jede Teilorganisation, welche Agil wird, erarbeitet ein Agiler Coach mit dem Führungsteam die neue Ablauforganisation. Dabei wächst das Führungsteam mit der Zeit zu einem echten Team zusammen, und durch eigenes Erleben wird ihnen in 1 bis 2 Jahren klar, welche Rollen gebraucht werden, und auch was ihre eigene beste Rolle ist. Mit etwa Glück passt das dann auch schon von der Menge her, andere gehen dann weiter in die nächste Teilorganisation.

Für jedes Produkt in den ersten Monaten der Veränderung braucht man aber auch mindestens eine Führungskraft mit breitem Kreuz und guten Kommunikationsskills, die bei den Managern weiter oben Stakeholder-Management betreibt. Denn es passiert alles Mögliche, vor allem kommt erst mal die bekannte Abwärtsbewegung bevor es aufwärts geht, und das muss man miteinander aushalten, ohne in Panik zu verfallen.

Alle Ebenen von Führungskräften muss man gesondert abholen. Es gibt zwei Maßnahmen, mit der man die Ebenen weiter oben für die Veränderung aktiviert:

  • Statusberichte werden abgeschafft! Das fördert die Teilnahme auch des höheren Management an Reviews. Es ist natürlich manchmal aufgrund der Menge nötig, noch ein übergeordnetes Review auf gröberem Korn zu machen.
  • Impediments, also Hindernisse, die in den Teams nicht gelöst werden können, werden nach oben ans Management eskaliert. Dabei kann man festlegen, wie lange sie maximal in jeder Hierarchie-Ebene zur Lösung brauchen dürfen, bis sie weiter nach oben eskaliert werden.

Es gibt natürlich auch hoffnungslose und sogar toxische Fälle, da waren sich auch alle einig. Wenn bei jemandem Position, Geld und Macht die Hauptmotivation für die Karriere waren und auch Monate der Veränderung keine anderen Motive hervorgelockt haben, und die ganzen Trainings und Workshops umsonst waren, dann muss man halt schauen, ob es noch eine un-agile Ecke im Unternehmen gibt, sonst kann so jemand ganze Teams demotivieren und an der Selbstorganisation hindern.

Demokratisierung ist 2015 ein drängendes Thema für Unternehmen in Deutschland

In den letzten Monaten wird in Deutschland eine Diskussion immer vehementer geführt, bei der es um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Unternehmen geht: Muss sich die Struktur und die Entscheidungswege nicht viel schneller und radikaler ändern, als es bisher der Fall ist, damit deutsche Unternehmen weiter auf dem Weltmarkt der Produkt- und Business-Innovationen mithalten können?

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht jede Woche Artikel zu diesem Thema in ihrem Wirtschaftsteil, z.B. am 28. März: „Wir sind die Firma“ mit Beispielen für demokratischere, flexiblere Unternehmenskulturen aus dem Kreativ- und IT-Mittelstand. Im Februar fand eine von der TU München organisierte Konferenz statt, der die Wirtschaft die Türen einrannte: „Das Demokratische Unternehmen“. Der Film „Augenhöhe“, Ende Januar 2015 im Internet veröffentlicht, zeigt echte Unternehmen in Deutschland, kleine, mittlere und große, die ganz oder zu bestimmten Themen demokratische Führung eingeführt haben. Er reist seitdem durch die den deutschsprachigen Raum zu Vorführungen mit Diskussion – allein für April sind 25 bereits öffentliche Veranstaltungen geplant, die sich an Unternehmer, an Mitarbeiter oder an alle richten. Der Sender ARTE zeigte ähnliches in der Dokumentation „Mein wunderbarer Arbeitsplatz“ (im Moment noch in der Online-Mediathek und bisher nur auf Französisch als DVD erhältlich)

Das Buch „New Business Order- wie Start-Ups Wirtschaft und Gesellschaft verändern“ von Chr. Giesa und L. Schiller Clausen zeigt auf, wo das Problem der althergebrachten Firmenorganisation liegt: neue Geschäftsmodelle rollen immer schneller alte Märkte auf, in denen sich die bisherigen Marktteilnehmer es gemütlich eingerichtet hatten. Digitale Technologien sorgen für die Demokratisierung von Produktionsmitteln und verhelfen Ideen, die eigentlich schon aus dem 70ern bekannt sind wie die „Share-Economy“ zum Durchbruch. – Das Buch zeigt neben der messerscharfen Analyse zum Glück auch gute Beispiele, wie Unternehmen sich ändern oder von vornherein anders aufstellen können.

Es ist halt nicht nur Amazon, das den stationären Buch- und Elektronikhandel aufmischt. So wie die Digitalkamera plötzlich den gesamten Markt für Foto und Filme pulverisiert hatte, oder die DVD die Video-Kassetten abgelöst hatte und diese jetzt gerade durch Streaming verdrängt wird, sieht sich z.B. die deutsche Auto-Industrie heute bereits bedroht durch immer vielfältigere und mit den Öffentlichen vernetzte Carsharing-Angebote, aber auch durch die Auto-Entwicklungen der IT-Firmen Google und Apple, durch die die traditionellen Autohersteller vielleicht bald zu Zulieferern herabgestuft werden. Setzen sich Elektro-Autos in nächster Zeit durch, dann werden dadurch Tankstellen überflüssig, wie Tesla Motors in USA bereits vorführt, und kommt das nächste freie Auto von selbst zum Kunden gefahren, wer braucht dann noch Taxis oder „Uber“?

Hilfestellung für das verunsicherte Management leistet auch das Buch „Management Y“ von U.Brandes u.a. , das moderne Methoden wie Agile, Scrum, Design Thinking erklärt, und anhand sehr praktisch aufgemachter Kapitel mit Beispielen aus realen Unternehmen und weiterführendem Material Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. – Auch Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Organizations“ wird im April in deutscher Sprache erscheinen – mein Blogbeitrag dazu.

Ganz wichtig ist diese Diskussion für alle Unternehmen, die in ihrer IT oder Produktentwicklung agile Softwareentwicklung einführen wollen. Denn oft wird da nur bis zu den Grenzen der Entwicklungs- oder IT-Abteilung gedacht. Wichtige Prozesse, die erst die volle Entfaltung des Potentials von agiler Entwicklung ermöglichen oder verhindern können, bleiben dabei außen vor: wie z.B. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgewählt werden, wie wertschätzend sie HR behandelt, wie sie gefördert werden oder auch nicht, wie leicht sie Zugang zu Austausch und Weiterentwicklung haben. Wer auf welche Weise Ziele für sie festlegt, und ob und wie sie bewertet werden. Wie man neue Ideen einbringen und entwicklungsreif machen kann, wie man ein Budget oder Freistellung dafür bekommt. Wie man im Unternehmen aufsteigt oder auch quer wechseln kann. Wer nach welchen Kriterien die Gehaltshöhe festlegt. Ob man zu Hause oder unterwegs auch arbeiten kann, und wie bürokratisch der Umgang mit Überstunden, Urlaub und Dienstreisen ist. – Denn wer im Team eigentlich selbst organisiert arbeiten soll, aber als Mitarbeiter nicht die kleinste Kleinigkeit mit gesundem Menschenverstand entscheiden kann, hat ein gespaltetes Bild seines Arbeitgebers. Bürokratische Hemmnisse für Innovation und Weiterbildung führen zu immer stärkeren Friktionen zwischen den Mitarbeitern, die ihr Unternehmen voranbringen wollen, und dem Unternehmen selbst.

Hier muss das Management ansetzen. Nur wenn das ganze Unternehmen im 21. Jahrhundert ankommt, wird es auf Dauer erfolgreich sein. Wenn eine Ideen für ein neues Produkt  in 2 Monaten mit Design-Thinking entwickelt und seine Business-Fähigkeit mit Lean-Sartup am Markt validiert werden kann, aber die Genehmigung für ein Budget und ein Entwicklungsteam ein weiteres Jahr beansprucht, dann kann diese Firma ihre innovativen Produkte womöglich nicht auf den Markt bringen, bevor das die Konkurrenz getan hat.

Daher: Nur Mut! Es gibt viele positive Beispiele, wie lange Prozesse und umständliche Entscheidungswege die Hierarchien rauf und runter durch eine Portion gesunden Menschenverstand ersetzt worden sind – und die Firma nicht nur nicht unterging, sondern kräftiger denn je am Markt unterwegs ist. Laut einer Umfrage der Initiative Neue Qualität der Arbeit sind drei von vier Chefs überzeugt, dass die Führungskultur in Deutschland geändert werden muss. (SZ 28.03.2015). Lasst es uns tun!

Wozu brauchen wir Frameworks für Scrum im Großen wie #LeSS und #SAFe ?

Es gibt mittlerweile zwei Frameworks für Scrum im Großen:

Dean Leffingwell und seine Firma haben 2011 das recht ausführliche SAFe oder Scaled Agile Framework online gestellt und schieben nummerierte Updates nach. Es illustriert eine sehr elaborierte große agile Organisation.

Bas Vodde und Craig Larmann folgten 2014 mit LeSS oder Large Scale Scrum, welches auf ihren sehr hilfreichen Büchern von 2009 „ Scaling Lean und Agile Developement: Thinking and Organizational Tools for Large-Scale Scrum“ und 2010 „Practices for Scaling…“ basiert. Das ist ein sehr schlankes Framework, das die Bücher nicht ersetzt, sondern eher einen guten Einstieg in alle Themen bietet.

In den letzten Monaten werde ich immer häufiger gefragt, ob man ein solches Framework bei der Einführung von Scrum in großen Organisationen verwenden soll. Dahinter stehen Fragen wie ob es einfacher wird, kostengünstiger, man weniger lesen muss, oder gar ob man es fertig kaufen kann und nur noch ausrollen lassen muss.

Gerade der Ansatz von SAFe suggeriert dies: es ist bewährt, oft erfolgreich angewendet worden. Und das Ausrollen in einer beliebig großen oder komplexen Organisation erfolgt durch eine Serie von zertifizierten Trainings durch zertifizierte Trainer, die es praktischerweise in vielen Ländern gibt.
Drei Schritte: Training für die internen Coaches, Training für das Management, dann für die Teams – als komplette Release-Trains innerhalb von 5 Tagen. Und fertig? – Na ja, da braucht man für viele Situationen dann doch noch erfahrene externe Coaches, denn gelernt ist ja nicht wirklich gekonnt, und was man noch nicht selbst angewendet hat, kann man auch schlecht coachen.

Ich weiß noch, wie viel und wie lange wir diskutiert haben bei der Einführung von Scrum in unserer großen und verteilten Organisation. Dabei hatten wir viele Voraussetzungen schon im Laufe der Vorbereitungen geschaffen, z.B. Testautomatisierung für den bestehenden Code erhöht, häufigere Builds, und Informationen über vorhandene technische Schulden gesammelt und ins Backlog integriert. Aber schon allein die Tatsache, dass die Verteilung der Organisation über die verschiedenen Standorte ganz anderen Kriterien folgen musste als vorher, da wir ja gemischte Teams wollten, die ganze Features entwickeln und testen können, hat schon viel Kopfzerbrechen verursacht. Es sollten viele Leute in anderen Rollen arbeiten als zuvor. Einige Rollen hatten wir an bestimmten Orten zum ersten Mal. Wie viele Feature Areas sollten wir bilden, und wer war für welche Feature Area als Area Product Owner geeignet? Alle diese Dinge kann man entscheiden, wenn man sich schon eine Weile damit auseinander gesetzt hat und erfahrene Sparringspartner hat.

So ein Framework kann einem dabei helfen, alle Gebiete zu finden, über die man nachdenken muss. Es kann einem ein paar Lösungen zeigen, die sich schon bewährt haben – was natürlich wieder in bestimmten Organisationen mit bestimmten Kontexten und Randbedingungen war. Die Bücher von Vodde und Larman haben uns damals sehr geholfen, weil sie nicht als Bibel daher kamen, sondern mit Mustern, die man unter bestimmten Umständen sinnvoll anwenden kann, die aber unter anderen Umständen heftig scheitern können. Manchmal haben sie sogar empfohlen, Muster die sie zuvor als falsch und un-agil dargestellt hatten, in bestimmten vertrackten Situationen dennoch als Workaround einzusetzen.

Auch im Scaled Agile Framework haben wir einige interessante Lösungen gefunden, z.B. das Verhältnis zwischen Kundenfeatures und technischen Features und wer dafür sorgt, dass beide hoch genug priorisiert werden – siehe Program Backlog. Man muss eben nur auch hier alles als Anregung sehen, was in bestimmtne Kontexten funktionieren kann.

Meinen Erfahrungen entspricht, was im LeSS Framework zum Ausrollen gesagt wird: Eine agile Transition funktioniert weder nur top-down noch nur bottom-up, sondern es muss immer in beide Richtungen gehen. Lieber anfangs eine kleine Abteilung oder ein kleines Produktteam umstellen, und das richtig tief, dabei wirklich gut experimentieren und lernen – und dann in der größeren Organisation ausbreiten und mehr lernen. Viel mit Freiwilligen machen, so dass Selbstorganisation auch zum Ausrollen der Selbstorganisation verwendet wird!

Mit einem solchen Ansatz ist die Verwendung eines Frameworks für Scrum im Großen sinnvoll. Die eigentliche agile Transition bleibt dabei immer in den Händen der Organisation, die sie tun will, und die ja auch die Verantwortung für ihre wirtschaftlichen Ergebnisse, ihre Experimente und ihr Lernen hat. Die externen Coaches können nur unterstützen.

LeSS works

– Vor einigen Tagen haben sich übrigens ein paar Freiwillige aus verschiedenen Firmen zusammen gefunden, um das Large Scale Scrum Framework ins Deutsche zu übersetzen. Wer Interesse hat, dabei mit zu machen, kann gerne der Xing-Gruppe beitreten und mich kontaktieren! https://www.xing.com/communities/groups/large-scale-scrum-8e98-1052168

Demokratie im Unternehmen: Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Organizations“

Buch: "Reinventing Organizations"Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Organizations“ ist ein besonderes Wirtschaftsbuch: es handelt von Firmen in Selbstorganisation – das ist außerordentlich spannend und trifft einen Megatrend des aktuellen Jahrzehnts.

Frederic Laloux gibt erst mal den soziologisch-historischen Kontext der Menschheitsentwicklung seit der Steinzeit, und  ordnet in diesen die Organisationstypen ein, die in diesem Kontext jeweils möglich und auch vorherrschend waren. Dabei entwickelt er ein Farbspektrum für Organisationen, von Infrarot bis zu heutigen orangen, gelben und grünen Organisationen jeweils mit ihren Hauptmerkmalen: ihre Grundannahmen über die Welt, ihre Fähigkeiten, zu planen, mit Komplexität umzugehen, zu skalieren, und auf unerwartete Ereignisse zu reagieren. Organisationen mit völlig unterschiedlichen Wertsystemen koexistieren und konkurrieren. Heute – in den letzten paar Jahrzehnten kommen Organisationen ins Spiel, die vielleicht erst aufgrund der komplexen Erfahrungen von Menschen in der heutigen Welt möglich sind, und die die Fähigkeit haben, sich selbst zu steuern und in kurzen Iterationen weiter zu entwickeln.

Ich finde diese Sichtweise interessant, zumal er sie auch auf die menschliche Entwicklung anwendet:  Als Mensch kann man mit zunehmender Reifung seiner intellektuellen und sozialen Fähigkeiten von verschiedenen Farbstufen aus agieren. Das wird aber mit  beeinflusst von den Anregungen, die die Umgebung gibt, die Systeme, in denen die Menschen leben. Eine Schule, die im hierarchisch-gelben Muster erstarrt ist, wird also keine große Menge evolutionärer Kreativwesen hervorbringen – wenn nicht der Mensch solche Anregung in anderen Organisationen in seiner Umgebung findet.

Ist in der gelben Organisation alles bereits festgelegt durch die Stellung des Menschen in der Organisation (Schule, Kirche, Armee), so ist in der orangen Organisation alles abhängig von den Zielen, die man dem Mitarbeiter setzt und die er in egoistischer Weise zu erreichen versucht, um seinen Bonus zu verdienen (so die Konzern-Philosophie seit den 1990er Jahre).  Grüne Organisationen gibt es, wenn überhaupt, im non-profit Bereich, mit Konsensentscheidungen und Gleichlohnprinzip.

Die neuen, evolutionär-petrolfarbenen Organisationen gehen von einem fundamental anderen Weltbild und Menschenbild aus als ihre Vorläufer: Es gibt Vertrauen in den Gemeinsinn des Individuums, ohne dass alle gleich sein müssen, oder auch nur das gleiche wollen. Man traut den Menschen zu, unterschiedliche Ziele und Bedürfnisse in einen gemeinsamen Kontext zu bringen. Die Einzelnen dürfen unterschiedlich stark beitragen, und man traut ihnen sogar zu, diese unterschiedlichen Beiträge untereinander gerecht zu bewerten. Das Menschenbild dieser Organisationen geht nicht von einer inhärenten Begrenzung, sondern einer nahezu unbegrenzten Lernfähigkeit der Menschen aus. In der Selbstorganisation in bunt gemischten Teams liegt die Fähigkeit, sich leicht an die Notwendigkeiten der Kunden anzupassen, auszuprobieren, zu lernen, und mehr richtige Entscheidungen zu treffen als hierarchische Organisationen das können. Dabei wird die Firma nicht als Maschine mit festgelegten Prozessen gesehen, sondern als lebender Organismus.

Die Beispiele aus der Realität, die der Autor heranzieht, sind dabei erfrischend unterschiedlich, hier nur 4 von rund einem Dutzend:

  • Buurtzong – eine gemeinnützige Firma für häusliche Altenpflege in den Niederlanden (7000 Mitarbeiter/innen)
  • FAVI – ein Hersteller für Spezial-Metallteile in Frankreich (500 Mitarbeiter/innen)
  • Morning Star – ein Lebensmittelverarbeiter in den USA (400-2400 Mitarbeiter/innen)
  • Sun Hydraulics – eine globale Firma für hydraulische Komponenten global (900 Mitarbeiter/innen)

Diese Organisationen, so unterschiedlich ihr Arbeitsgebiet und ihr Markt sein mögen, haben viele wichtige Probleme und Fragen ähnlich gelöst.

  • Die Grundstruktur besteht aus übersichtlichen Teams, die sich selbst verwalten und organisieren.
  • Die Teams kümmern sich um Einstellungen, Gehaltshöhe, und Beurteilung / Feedback
  • Es gibt kein mittleres Management, sondern in der Regel nur Coaches, oder aber auf Zeit oder für ein bestimmtes Projekt gewählte Führungskräfte.
  • Es gibt eine hohe Transparenz bei allen wichtigen Informationen
  • Entscheidungsprozesse sind radikal vereinfacht. Es besteht die Möglichkeit für Mitarbeiter/innen, Entscheidungen nach einem Konsultationsprozess direkt zu treffen
  • Ein Grundprinzip ist Vertrauen statt Kontrolle nach dem Motto „Wir sind alle erwachsen“.
  • Die Betriebe haben meist auch einen expliziten Wertekodex, den sie mit den Mitarbeiter/innen erarbeitet haben und den sie neuen Mitarbeiter/innen vermitteln
  • Umgang miteinander und Konfliktlösung sind wichtige Trainingsthemen

In einem früheren Blogeintrag habe ich die brasilianische Firma Semco SA besprochen, die sich bereits seit den frühen 1980er Jahren  in Brasilien in eine selbstorganisierende Firma umgewandelt hat. Sie ist den beschriebenen Fällen sehr ähnlich. Faszinierend finde ich an den Beispielen, dass Selbstorganisation nur Vorteile zu haben scheint: Die Ergebnisse liegen alle weit über dem jeweiligen Branchen-Durchschnitt in Rentabilität und Kundenzufriedenheit. Es gibt meist eine sehr niedrige Fluktuation der Mitarbeiter/innen gepaart mit hoher Zufriedenheit und Motivation. Es gelingt diesen Firmen außerordentlich gut, plötzlich auftretende Probleme zu lösen, wie auch sich an Krisen und veränderte Marktgegebenheiten anzupassen.

Wenn man bedenkt, dass es in vielen Beispielen, wo langjährig erfolgreiche Firmen plötzlich vom Markt verschwinden, daran liegt, dass das Management nicht in der Lage ist, wirklich gute Entscheidungen zu treffen die die Situation fundamental ändern, während in der Belegschaft oft schon lange warnende Stimmen zu hören waren, dann kann es gut sein, dass die selbstorganisierende Firma zur vorherrschenden Gruppe im 21. Jahrhundert werden wird. Auf jeden Fall zur interessantesten.

Werfen wir abschließend einen Blick auf „agile“ Firmen, die Softwareprodukte entwickeln, so ist unter den in den letzten Jahren gewachsenen, erfolgreichen Firmen auch so manche zu finden, die ähnliche Konzepte wie die in dem Buch beschriebenen verfolgt. Demokratische Strukturen in der ganzen Firma harmonisieren nun mal viel besser mit agiler Entwicklung als eine „Command-and-Control“-Hierarchie. Z.B. habe ich in letzter Zeit die Beiträge von Henrik Kniberg, agiler Coach bei Spotify, angeschaut, z.B. seinen Vortrag Culture Over Process“ (agile66, Bangkok, 2013) – Hier ein Video und die Folien dazu. Bei dieser Firma sind trotz rasanten Wachstums auf über 300 Entwickler demokratische Strukturen, selbst organisierende Teams, Coaches, und eine agile Kultur in der DNA enthalten. Hier sieht man auch deutlich, dass agile Praktiken sich viel schneller und nachhaltiger entwickeln, wenn die Organisation drumherum nicht hierarchisch ist, und Entscheidungen wirklich auf der niedrigst möglichen Ebene getroffen werden. Von solchen Firmen mit agiler Kultur werden wir noch viel hören!