Demokratie im Unternehmen: Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Organizations“

Buch: "Reinventing Organizations"Frederic Laloux‘ Buch „Reinventing Organizations“ ist ein besonderes Wirtschaftsbuch: es handelt von Firmen in Selbstorganisation – das ist außerordentlich spannend und trifft einen Megatrend des aktuellen Jahrzehnts.

Frederic Laloux gibt erst mal den soziologisch-historischen Kontext der Menschheitsentwicklung seit der Steinzeit, und  ordnet in diesen die Organisationstypen ein, die in diesem Kontext jeweils möglich und auch vorherrschend waren. Dabei entwickelt er ein Farbspektrum für Organisationen, von Infrarot bis zu heutigen orangen, gelben und grünen Organisationen jeweils mit ihren Hauptmerkmalen: ihre Grundannahmen über die Welt, ihre Fähigkeiten, zu planen, mit Komplexität umzugehen, zu skalieren, und auf unerwartete Ereignisse zu reagieren. Organisationen mit völlig unterschiedlichen Wertsystemen koexistieren und konkurrieren. Heute – in den letzten paar Jahrzehnten kommen Organisationen ins Spiel, die vielleicht erst aufgrund der komplexen Erfahrungen von Menschen in der heutigen Welt möglich sind, und die die Fähigkeit haben, sich selbst zu steuern und in kurzen Iterationen weiter zu entwickeln.

Ich finde diese Sichtweise interessant, zumal er sie auch auf die menschliche Entwicklung anwendet:  Als Mensch kann man mit zunehmender Reifung seiner intellektuellen und sozialen Fähigkeiten von verschiedenen Farbstufen aus agieren. Das wird aber mit  beeinflusst von den Anregungen, die die Umgebung gibt, die Systeme, in denen die Menschen leben. Eine Schule, die im hierarchisch-gelben Muster erstarrt ist, wird also keine große Menge evolutionärer Kreativwesen hervorbringen – wenn nicht der Mensch solche Anregung in anderen Organisationen in seiner Umgebung findet.

Ist in der gelben Organisation alles bereits festgelegt durch die Stellung des Menschen in der Organisation (Schule, Kirche, Armee), so ist in der orangen Organisation alles abhängig von den Zielen, die man dem Mitarbeiter setzt und die er in egoistischer Weise zu erreichen versucht, um seinen Bonus zu verdienen (so die Konzern-Philosophie seit den 1990er Jahre).  Grüne Organisationen gibt es, wenn überhaupt, im non-profit Bereich, mit Konsensentscheidungen und Gleichlohnprinzip.

Die neuen, evolutionär-petrolfarbenen Organisationen gehen von einem fundamental anderen Weltbild und Menschenbild aus als ihre Vorläufer: Es gibt Vertrauen in den Gemeinsinn des Individuums, ohne dass alle gleich sein müssen, oder auch nur das gleiche wollen. Man traut den Menschen zu, unterschiedliche Ziele und Bedürfnisse in einen gemeinsamen Kontext zu bringen. Die Einzelnen dürfen unterschiedlich stark beitragen, und man traut ihnen sogar zu, diese unterschiedlichen Beiträge untereinander gerecht zu bewerten. Das Menschenbild dieser Organisationen geht nicht von einer inhärenten Begrenzung, sondern einer nahezu unbegrenzten Lernfähigkeit der Menschen aus. In der Selbstorganisation in bunt gemischten Teams liegt die Fähigkeit, sich leicht an die Notwendigkeiten der Kunden anzupassen, auszuprobieren, zu lernen, und mehr richtige Entscheidungen zu treffen als hierarchische Organisationen das können. Dabei wird die Firma nicht als Maschine mit festgelegten Prozessen gesehen, sondern als lebender Organismus.

Die Beispiele aus der Realität, die der Autor heranzieht, sind dabei erfrischend unterschiedlich, hier nur 4 von rund einem Dutzend:

  • Buurtzong – eine gemeinnützige Firma für häusliche Altenpflege in den Niederlanden (7000 Mitarbeiter/innen)
  • FAVI – ein Hersteller für Spezial-Metallteile in Frankreich (500 Mitarbeiter/innen)
  • Morning Star – ein Lebensmittelverarbeiter in den USA (400-2400 Mitarbeiter/innen)
  • Sun Hydraulics – eine globale Firma für hydraulische Komponenten global (900 Mitarbeiter/innen)

Diese Organisationen, so unterschiedlich ihr Arbeitsgebiet und ihr Markt sein mögen, haben viele wichtige Probleme und Fragen ähnlich gelöst.

  • Die Grundstruktur besteht aus übersichtlichen Teams, die sich selbst verwalten und organisieren.
  • Die Teams kümmern sich um Einstellungen, Gehaltshöhe, und Beurteilung / Feedback
  • Es gibt kein mittleres Management, sondern in der Regel nur Coaches, oder aber auf Zeit oder für ein bestimmtes Projekt gewählte Führungskräfte.
  • Es gibt eine hohe Transparenz bei allen wichtigen Informationen
  • Entscheidungsprozesse sind radikal vereinfacht. Es besteht die Möglichkeit für Mitarbeiter/innen, Entscheidungen nach einem Konsultationsprozess direkt zu treffen
  • Ein Grundprinzip ist Vertrauen statt Kontrolle nach dem Motto „Wir sind alle erwachsen“.
  • Die Betriebe haben meist auch einen expliziten Wertekodex, den sie mit den Mitarbeiter/innen erarbeitet haben und den sie neuen Mitarbeiter/innen vermitteln
  • Umgang miteinander und Konfliktlösung sind wichtige Trainingsthemen

In einem früheren Blogeintrag habe ich die brasilianische Firma Semco SA besprochen, die sich bereits seit den frühen 1980er Jahren  in Brasilien in eine selbstorganisierende Firma umgewandelt hat. Sie ist den beschriebenen Fällen sehr ähnlich. Faszinierend finde ich an den Beispielen, dass Selbstorganisation nur Vorteile zu haben scheint: Die Ergebnisse liegen alle weit über dem jeweiligen Branchen-Durchschnitt in Rentabilität und Kundenzufriedenheit. Es gibt meist eine sehr niedrige Fluktuation der Mitarbeiter/innen gepaart mit hoher Zufriedenheit und Motivation. Es gelingt diesen Firmen außerordentlich gut, plötzlich auftretende Probleme zu lösen, wie auch sich an Krisen und veränderte Marktgegebenheiten anzupassen.

Wenn man bedenkt, dass es in vielen Beispielen, wo langjährig erfolgreiche Firmen plötzlich vom Markt verschwinden, daran liegt, dass das Management nicht in der Lage ist, wirklich gute Entscheidungen zu treffen die die Situation fundamental ändern, während in der Belegschaft oft schon lange warnende Stimmen zu hören waren, dann kann es gut sein, dass die selbstorganisierende Firma zur vorherrschenden Gruppe im 21. Jahrhundert werden wird. Auf jeden Fall zur interessantesten.

Werfen wir abschließend einen Blick auf „agile“ Firmen, die Softwareprodukte entwickeln, so ist unter den in den letzten Jahren gewachsenen, erfolgreichen Firmen auch so manche zu finden, die ähnliche Konzepte wie die in dem Buch beschriebenen verfolgt. Demokratische Strukturen in der ganzen Firma harmonisieren nun mal viel besser mit agiler Entwicklung als eine „Command-and-Control“-Hierarchie. Z.B. habe ich in letzter Zeit die Beiträge von Henrik Kniberg, agiler Coach bei Spotify, angeschaut, z.B. seinen Vortrag Culture Over Process“ (agile66, Bangkok, 2013) – Hier ein Video und die Folien dazu. Bei dieser Firma sind trotz rasanten Wachstums auf über 300 Entwickler demokratische Strukturen, selbst organisierende Teams, Coaches, und eine agile Kultur in der DNA enthalten. Hier sieht man auch deutlich, dass agile Praktiken sich viel schneller und nachhaltiger entwickeln, wenn die Organisation drumherum nicht hierarchisch ist, und Entscheidungen wirklich auf der niedrigst möglichen Ebene getroffen werden. Von solchen Firmen mit agiler Kultur werden wir noch viel hören!